Ich treffe mich mit einer Kollegin zum Mittagessen, und während wir essen, kommen mir die Tränen, weil sie mich nach unserem Sohn fragt. Sie schiebt mir Taschentücher über den Tisch und lässt mir ein paar Minuten Zeit, bis ich mich gefangen habe.
Mit meinen ältesten Freunden abends in einer Kneipe. Wir essen, wir reden, ich bin ein wenig neben der Spur, weil einer dieser Freunde uns im Krankenhaus besucht hat und sagte, es gehörte für ihn zum Bewegendsten, was er bisher erlebt hat – uns mit unserem Sohn zu sehen, so friedlich. Und ein anderer fragt, ob ich davon erzählen möchte, und ich sage: „Sehr gerne.“
Wir besuchen Freunde, und während das Essen im Ofen schmurgelt, stehen sie und ich in der Küche, die Männer reden im Wohnzimmer. Unser Gespräch gelangt bald schon an einen Punkt, da reden wir über Entscheidungen im Leben, über jene Momente, die alles auf den Kopf stellen und umdrehen. Und sie tröstet mich, weil ich mit all den anderen Menschen hadere, die mit unserer Trauer nicht umgehen können.
Diese drei Situationen – und es gab noch so viele mehr, so unendlich viele, und jede einzelne bewahre ich im Herzen, weil sie mir so, so, so viel geben! – stehen auf der einen Seite dessen, was ich in den letzten dreieinhalb Monaten erfahren habe. Sie sind Teil meines Heilungsprozesses, sie sind Teil meiner Trauerarbeit. Für mich ist es wichtig, darüber zu reden. Wichtig, dass mein Sohn nicht nur ein Kind ist, das eben zu früh geboren wurde und nur 13 Minuten lebte. Dass er nicht nur für uns als Familie in der Erinnerung lebendig bleibt, sondern dass eben auch Freunde ein winziges Bisschen teilhaben konnten an seinem Leben. Dass er Spuren hinterlassen hat. Das tröstet mich.
Es gibt aber auch die andere Seite. Die Menschen, die Angst vor Trauer haben. Keiner wechselt hier die Straßenseite; keiner ignoriert mich oder geht mir aus dem Weg. Oder, formulieren wir es anders: bei niemandem, der mir wichtig ist, habe ich das Gefühl, dass er nicht auf mich reagiert. Im ersten Moment war eine unendlich große Welle der Anteilnahme da. Ja, wirklich! Und zum Glück hat sich bisher auch keiner entblödet, uns zu sagen, dass wir ja noch viele Kinder haben werden, die, Gott bewahre, unseren Erstgeborenen ersetzen können. Oder ich erinnere mich nicht daran, das kann auch sein. Manchmal ist es ein Segen, selektiv zu sein.
Es läuft auf einer anderen Ebene ab. Verabredungen, die kurz vorher gekippt werden, teilweise mit nicht ganz nachvollziehbaren Gründen. Die ich aber akzeptiere. Weil ich die Angst akzeptiere. Oder Verabredungen, die ein bisschen umgemodelt werden, damit garantiert kein Platz für Gespräche über „dieses Thema“ ist. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es passiert, und danach hört man von den Leuten erstmal nichts mehr. Wie gesagt: für mich ist das, nach längerem Nachdenken, okay. In den allermeisten Fällen sind es Menschen, die noch keinen großen Verlust erlitten haben. Die noch nicht erlebt haben, wie ein Elternteil starb. Die ihr Kind nicht zu Grabe tragen mussten. Diese Menschen – ich beneide sie ein bisschen, denn das Leben macht mir ein bisschen Angst, weil es immer Hand in Hand mit dem Tod herumstreift.
Auf der anderen Seite und an den schlechten Tagen regt mich das einfach nur irre auf. Himmel, wovor habt ihr Angst? Fürchtet ihr, mein Schmerz ist ansteckend? Denkt ihr, wenn ihr mit mir redet, breche ich in Tränen aus? Das tue ich tatsächlich (siehe oben), es passiert oft genug. Aber es passiert vor allem, weil ich in diesen Situationen erleichtert bin. Ich bin erleichtert, in meiner Trauer angenommen zu werden. Erleichtert, weil diese Menschen mich in den Arm nehmen, weil sie mir ein Taschentuch rüberschieben, weil sie nicht viel sagen (das müssen sie nämlich gar nicht), weil sie meine Trauer verstehen und keine Angst davor haben. Ja, weil sie mir in den ersten Tagen und Wochen den Kühlschrank und das Tiefkühlfach vollgeräumt haben, damit wir nicht verhungern, weil sie uns zum Essen eingeladen haben, weil sie zugehört haben. Weil sie die Fotos ansehen und selber weinen müssen. Weil das alles eben so verdammt traurig ist und ich dann wieder so verdammt, verdammt, verdammt froh, denn ich werde mit diesem Schmerz von manchen nicht wahrgenommen, einfach ausgeblendet, ignoriert. Dieser Schmerz, den ich selbst erst annehmen musste, wird von meinen Freunden eben auch angenommen – als ein Teil von mir, als Teil meines Lebens. Etwas, das mich immer begleiten wird. Nicht etwas, über das wir bis ans Ende aller Tage jetzt bitte immer und immer wieder reden müssen, das ist ja gar nicht nötig. Aber ich kann mich inzwischen nicht mehr mit jemandem an den Tisch setzen, der sich dafür offensichtlich nicht interessiert. Der nicht fragt, weil er meine Reaktion fürchtet, der nicht zuhört, wenn ich von meinem Sohn erzähle. Auch das wird sich irgendwann wieder ändern, aber im Moment ertrage ich es eben nicht. Ich bin auf jeden zugegangen, jeder hatte die Chance, das Gespräch mit mir zu suchen. Wer das bis heute nicht geschafft hat, kann mir an den schlechten Tagen gepflegt den Buckel runterrutschen und gestohlen bleiben. An den guten Tagen, okay, da sag ich mir: nächstes Jahr, irgendwann. Dann renkt sich das auch wieder ein, wenn ich etwas ruhiger bin. Ist vielleicht im Moment besser so, wie’s ist. Und wenn nicht – auch nicht schlimm.
„Ihr seid in eurer Trauerarbeit schon irre weit.“
Diesen Satz habe ich nicht nur einmal gehört. Ich habe ihn sehr, sehr oft gehört, weil wir in dieser schlimmsten aller Situationen einige Dinge richtig gemacht haben. Einige Entscheidungen getroffen haben, die in der Situation selbst nur intuitiv waren, die letztlich aber, rückblickend, wirklich gut waren. Trauerarbeit hieß: ihn loslassen. Es hieß auch: den Schmerz und die Trauer annehmen. Sich nicht davor fürchten, wenn sie wieder ihre Klauen in mein Herz und meinen Verstand schlägt, wenn sie mich niederreißt und ich ein paar Tage außer Gefecht bin. Das ist nicht schlimm, das ist Teil dieses Spiels, das wir Leben nennen.
Schlimm finde ich: die Augen davor verschließen. Sich davor zu fürchten, dass es irgendwann wieder so kommt. So wie sich jene Menschen, die noch nicht einen der großen Verluste erlitten haben (Eltern, Partner, Kind) so offensichtlich davor fürchten, dass die meisten den Umgang mit Trauernden einfach nicht schaffen. Und man sich als Trauernder von ihnen stigmatisiert fühlt. Da, die trauert. Die hat ihr Kind verloren, die kennt kein anderes Thema und kann grad nicht lachen.
Kann ich wohl. Über so viel Naivität.