3. An jedem 3. eines Monats …

… halte ich inne. Ich atme durch. Ich schließe die Augen, ich mache einen Moment lang nichts.
An jedem 3. eines Monats ist die Erinnerung stärker. Wie in einem Spiegel, der zurückreicht. 28 Monate inzwischen. Ich brauche das nicht zählen; ich sehe jeden Monat wie eine Perle auf einer Schnur. Die ersten dunkelgrau, fast schwarz, und dann, ganz ganz langsam nur, werden sie heller. Die Tage, die Wochen, Monate. Inzwischen: Jahre.

Trauer ist eine große Kraft. Sie lässt nicht von dir, nur weil du sie loslassen willst. Sie gräbt Klauen und Zähne in dich, sie schüttelt dich, sie lässt nicht los, bis du dich ergibst. Bis du sagst: Ja dann, hol mich doch. Ich habe doch schon das Liebste und Wertvollste verloren, das mein Leben bereithielt. Ich musste meinen Sohn begraben, er hat nur wenige Minuten gelebt. Er hat mich geprägt wie kaum ein Mensch zuvor; seine kurze Lebensspanne hat meine, die so viel unendlich länger ist, zu einer anderen gemacht.

Und an so einem 3. des Monats, da kommt es vor, dass ich in Gedanken Briefe an ihn schreibe. An Jacob. Lieber Jacob, denke ich dann. Lieber Jacob … und dann breche ich ab, weil ich die Tränen wieder spüre. So ganz hell sind die Tage eben nicht wieder geworden. Ich versuche es trotzdem.

Lieber Jacob,

es sind jetzt 28 Monate ohne dich. Ich konnte mir das nie vorstellen, wie das sein wird, wenn die Trauer leichter wird. Sie wird leichter, irgendwann. Aber sie wird auch wieder schwerer, und an manchen Tagen schau ich deine kleine, große Schwester an und denke, dass es merkwürdig ist. Sie ist bei uns. Du bist auch bei uns, aber so völlig anders. In Gedanken, ja. Ständig. Kaum ein Tag vergeht, an dem dein Papa und ich uns ansehen und sagen: „Wie das wohl wäre, wenn hier noch ein Zweijähriger herumsaust.“ Oder wir zeigen ihr dein Foto, das auf dem Highboard steht, neben den Hochzeitsfotos deiner Eltern und Großeltern, neben dem Foto deines Opas. Wir stellen ihr die Familie vor, die Lebenden und die Toten. Wir erzählen ihr von dir. Du wirst nie der große Bruder sein, der sie verteidigt. Der mit ihr spielt. Der sich mit ihr zankt.

Aber du bist da. In unseren Herzen, und ja, du wirst auch in ihrem Herzen immer einen Platz haben. Es tut manchmal weh, sie anzusehen, denn ich sehe die Ähnlichkeit zwischen euch. Und ich bin wütend, weil das Schicksal, die Gene, irgend so eine Fügung, die ich nie ganz kapieren werde, dir das genommen hat, was sie nun bekommt. Aber ganz oft denke ich eben auch: Ach, ihr zwei. Meine beiden Kinder. Denn mit meiner Liebe zu ihr, mit jedem Tag, den sie wächst, den sie lernt, lacht, lebt, sehe ich auch dich, irgendwie. Ich sehe dich wachsen, du bist nicht mehr das winzige Bündel, das sie mir auf die Brust gelegt haben, das ein einziges Mal leise gequakt hat und dann für immer verstummt bist. Denn ich sehe deine Möglichkeiten. Wie es hätte sein können, wie es nie gewesen ist.

Und dann diese absurden Gedanken, die sich im Kreis drehen. Bestimmt hätte es irgendwann ein zweites Kind für uns gegeben nach dir. Bestimmt hätten wir mehr gewollt, denn wir wollen ja auch jetzt mehr. Aber das wäre eine andere Zeit gewesen, ein anderer Moment, ein anderes Baby. Nicht deine Schwester. Sondern eben ein anderes Geschwister. Oder gar keins, das Schicksal ist ja nicht immer so fair, dass es mit sich spielen ließe. Es hätte also dieses Leben nicht gegeben, es hätte diese Schwester nicht gegeben. Das sind krumme Gedanken, ich weiß. Aber ich sehe sie an, und dann … mir bricht das Herz, aber dann bin ich so voller Liebe. Für dich, für sie. Weil du sie – irgendwie – in gewisser Weise – für uns möglich gemacht hast. Es gibt sie. Deinetwegen.

Und ich will nicht tauschen. Wollte ich nie. Es hat mir das Herz zerrissen, als ich erfuhr, wie krank du warst, dass du nie gelebt hättest, dass du nie eine Chance hattest. Da wusste ich bereits, dass ich stark genug sein würde, um dir die wenige Zeit im Leben zu schenken, meine Liebe, alles, was du willst. Ich hoffe, ich war dir eine gute Mama. Nein, ich weiß es. Wir haben alles richtig gemacht. Wir haben nicht aufgegeben. Du lebst, irgendwie. Für uns bist du immer noch da. Und ich bin dir dankbar. Du hast dich davongeschlichen, doch du hast uns ein großes Geschenk dagelassen.

Du fehlst, kleiner Jacob. Du wirst ihr großer Bruder sein. Für sie wirst du so selbstverständlich sein wie für uns, du wirst sie ihr ganzes Leben begleiten. Wir gehen den Weg gemeinsam mit dir. Du wirst immer bei uns sein.

Alles Liebe,
deine Mama

4 Gedanken zu „3. An jedem 3. eines Monats …

  1. Oh Jules! Ich sitze hier und lese und weine. So viel Liebe, die man in jedem Satz lesen und spüren kann – und so ein furchtbarer Verlust. Es gibt nichts, das ich hilfreiches oder tröstenden sagen kann. Ich drücke Dich in Gedanken. Ganz fest. (( ))

  2. Ich kann das so gut verstehen. Manchmal denke ich auch, wie es wohl wäre, wenn die anderen beiden geblieben wären. Dann hätten wir jetzt kein 5 Monate altes Baby, sondern ein fast schon einjähriges oder 10 Monate altes. Aber dann hätte es halt auch keinen Knirpsi gegeben, der unsere Herzen im Sturm und mit seinem strahlenden Lächeln erobert. Und dann weiß ich, dass es bei allem Schmerz gut so war und ist.

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